Hochsensibilität – eine Superkraft?

„Lebe deine Superpower“ oder „Feinfühlige Superkraft“ – wer im Netz nach einschlägigen Seiten über Hochsensibilität sucht, trifft immer wieder auf diese Begriffe. Sogar ein Institut wirbt mit dem Slogan „“Hochsensibilität ist eine Superkraft – werde zum Coach, der sie erkennt und nutzt!“ um Teilnehmer für eine Coachingausbildung. Aber ist sie das wirklich? Und, noch wichtiger, ist es sinnvoll, solche Begriffe zu verwenden?
Außer Frage steht, dass ein entscheidender Faktor für eine gelingende Integration von Hochsensibilität darin besteht, dass die Betroffenen die positiven Aspekte ihrer Disposition erkennen und schätzen lernen. Das ist allerdings nicht immer ganz einfach. Gerade für HSP im fortgeschrittenen Alter kann die Erkenntnis, dass ihre lebenslang empfundene Andersartigkeit auf ihrer Hochsensibilität beruht, zunächst eine große Erleichterung sein. Der darauf meist folgende Prozess einer rückblickenden Neubewertung des eigenen Lebens ist dann aber häufig mit Trauer und Schmerz verbunden. Ungenutzte Chancen und verpasste Möglichkeiten werden plötzlich wieder bewusst. Die vergeblichen Versuche, sich den Verhältnissen anzupassen, können im Rückblick mitunter eine tragische Dimension bekommen: Hätte ich das doch früher gewusst, dass ich hochsensibel bin, dann hätte ich mich selbst besser verstehen und annehmen können. Ach, was wäre alles möglich gewesen, wenn….
Das Reframing, die Neubewertung der mit Hochsensibilität zusammenhängenden Eigenschaften ist somit der vielleicht wichtigste Teil des Coachingprozesses, der vom Coach mit großem Einfühlungsvermögen und Geduld gestaltet werden muss. Selten geht das ohne Widerstände und Schwierigkeiten: Glaubenssätze und Rollenbilder müssen als solche erkannt und in ihrer Berechtigung befragt werden, mitunter erfordert die Integration der Hochsensibilität eine Neudefinition der eigenen Identität, bewegt sich also – Achtung, NLP! – auf den obersten Etagen der logischen Ebenen nach Dilts. In dieser Phase sind Klienten weit davon entfernt, ihre Hochsensibilität als „Superkraft“ empfinden zu können, ja, selbst mit der häufig verwendeten Bezeichnung „Gabe“ können sie häufig nicht viel anfangen. Ich glaube, dass die Idealisierung hochsensibler Eigenschaften mit Begriffen aus der Waschmittelwerbung sogar entmutigen kann: Was – worunter ich leide, soll eine „Superpower“ sein?
So ist die Integration einer neu entdeckten Hochsensibilität in der Regel eine langwierige und mit Schwierigkeiten verbundene Angelegenheit – wobei es Männer oft schwerer haben als Frauen, weil mit Hochsensibilität verbundene Eigenschaften wie Empathie, Gefühlsintensität oder Empfindlichkeit nicht zu dem Bild von Männlichkeit passen, das sie als Vorbild haben. (Aber das wird noch Thema eines anderen Artikels sein…)
Am Ende eines gelungenen Coachingprozesses jedenfalls stehen Menschen, die sich ihrer Disposition bewusst sind, diese angenommen und ihre Lebensumstände bestmöglich daran angepasst haben. Sie wissen um ihre Probleme, aber auch um ihre Qualitäten. „Superkräfte“ brauchen sie nicht.

1 Kommentar
  1. Silvia Aupperle sagte:

    Ich bin 66 Jahre alt und habe erst vor 4 Jahren nach einem Burnout erfahren, dass ich Hochsensibel bin.
    Jetzt bin ich dabei ,meinen Weg zu finden.
    Danke für die Artikel. Sie helfen mir weiter.
    Versuche auch an einem Stammtisch Termin teilzunehmen.
    Liebe Grüße
    Silvia Aupperle

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