„Man muss das innere Kind auch mal in Ruhe lassen“

Dieses Interview, das Nina Ayerle mit der Psychologin Gitta Jacob für die StZ geführt hat gebe ich an dieser Stelle wieder, da es meine Auffassung von Coaching sehr gut beschreibt. Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, speziell der Kindheit, ist wichtig. Sie sollte aber nicht in eine Problemtrance führen, sondern man sollte aktiv Dinge anpacken und nach Lösungsmöglichkeiten für die Zukunft suchen.

Frau Jacob, müssen wir heute alle perfekt Therapie-Sprache beherrschen?

Ja, das ist inzwischen recht weit verbreitet. Viele reden wie ihre eigene Therapeutin und stellen gerne ihre psychischen Probleme zur Schau. Die soziale Zuwendung, die wir dafür kriegen, ist unsere Belohnung. Das Leid führt zu einer permanenten „Krankenrolle“ – und damit auch zur Schonung. Man kann sich wunderbar als Opfer fühlen.

Früher waren psychische Krankheiten ein Tabu. Hat das nicht etwas Gutes, dass das nicht mehr so ist?


Ja, das hat natürlich etwas Gutes. Das ist mir wirklich wichtig, das immer wieder zu betonen. Auch dass eine Psychotherapie für Menschen, die schwere psychische Symptome haben, bedeutend ist. Aber es ist inzwischen auch schick geworden, ein psychisches Problem zu haben. Wir bewegen uns in Teilen der Gesellschaft hin zu zu einem überpsychologisierten Zustand. In der Klasse meines Sohnes ist fast jedes Mädchen in Therapie. Das ist ein ungesunder Trend. Ich würde sagen, wir sollten eher wieder anfangen, weniger zu psychologisieren.

Was ist der Haken daran, wenn wir uns intensiver mit unseren Gefühlen beschäftigen?

Eine dauernde Auseinandersetzung mit negativen Gefühlen führt ja nicht per se dazu, dass wir uns besser fühlen. Im Gegenteil – wir werden dadurch nicht glücklicher, sondern noch mehr belastet. Das können Sie leicht ausprobieren, indem Sie sich an etwas Trauriges erinnern. Es wird sie sofort traurig machen. In einer professionellen Psychotherapie bedeutet Arbeit mit emotionalen Symptomen ja, dass man gezielt versucht, sich abzulenken und in andere Gefühle hineinzugehen. Das ignorieren viele.

Sie sagen, sie sehen es kritisch, wenn in einem Freundeskreis wie bei ihrem Sohn fast alle in Therapie sind. Warum?

Weil ich den Eindruck habe, dass das bei manchen fast zu ihrer wichtigsten Identität wird. Sie machen sich interessant über das, salopp gesagt, „Psychosein“. Das ist fast ein Wettbewerb. Aber wo soll das hinführen? Um etwas aus meinem Leben zu machen, brauche ich Freunde, einen Job und Werte, nicht eine Patientenidentität. Dazu muss ich mich natürlich mal anstrengen, neue Dinge ausprobieren, mich Ängsten stellen – es wird mittlerweile oft als unsensibel und übergriffig angesehen zu sagen: „Jetzt reiß dich halt mal zusammen und leg los“.

Inzwischen hört man auch von erwachsenen Menschen häufig Sätze wie „das verletzt jetzt aber mein inneres Kind“.


In einer seriösen Psychotherapie, in der mit dem inneren Kind gearbeitet wird, hat das in der Regel das Ziel, sehr negative Gefühle zu reduzieren und es soll erwachsenes, gesundes Verhalten fördern. Aber in der Form, wie wir es in der Gesellschaft gerade beobachten, erlaubt dieses ganze Innere-Kind-Ding uns quasi, unreif zu sein. Es verhindert, dass wir uns erwachsen und stark verhalten. Und es gibt uns eine Art Freibrief, egoistisch und bequem zu sein. Erwachsen sein bedeutet aber auch mal zurückstecken zu müssen, Kompromisse zu machen und mit negativen Gefühlen zurechtzukommen.

Psychische Krankheiten nehmen seit Jahren konstant zu. Braucht jeder prophylaktisch eine Therapie?


Es ist wichtig, psychische Krankheiten zu enttabuisieren – und diese richtig zu behandeln. Wer noch nie eine Therapie gemacht hat, für den ist das bei schweren Symptomen auf jeden Fall richtig. Aber in der Regel braucht es keine unendlich langen Therapien. Wenn jemand von einer Therapie zum Beispiel für eine Angststörung oder einer Depression profitiert, dann merkt man das in der Regel spätestens nach zwei Monaten. Ein wichtiger Punkt ist für die Betroffenen meist, dass sie ihre Ängste akzeptieren und als zu ihrem Leben gehörig betrachten. Eine Therapie kann Ängste oft nicht wegmachen, sondern nur helfen, besser mit ihnen umzugehen.

Sie sagen, es ist nicht gut, wenn Menschen mit psychischen Krankheiten lange krankgeschrieben sind. Warum?

Eine Depression bedeutet oft, dass irgendwas im Leben gerade schlecht läuft. Viele Therapeutinnen sagen dann: „Nimm dir mal ein paar Monate Auszeit.“ Aber davon wird das Problem meist nicht besser. Man löst es nicht, sondern verliert durch Passivität noch mehr Energie. Die Ängste, die Depression – das wird alles mehr und größer, wenn ich nur daheimsitze und um mich selbst kreise.

Sie schlagen also insgesamt vor, sich weniger therapieren zu lassen?

Ich plädiere dafür, der Psychologisierung den Raum zu lassen, in dem sie nützlich ist – wie bei schweren psychischen Krankheiten. Da finde ich es übrigens manchmal richtig schlimm, wie Erkrankungen, etwa nach schweren Traumata wie Krieg oder Vergewaltigung, bagatellisiert werden durch den Trend, alles als Trauma zu sehen. Aber davon abgesehen sollte man es mit der Psychologisierung nicht übertreiben und keine Wunder erwarten. Ich kann nicht alles „aufarbeiten“ und dann erst anfangen zu leben. Manchmal müssen wir das innere Kind auch einfach hinter uns lassen und Dinge anpacken.

Sie schlagen in ihrem Buch tatsächlich sogar recht banale Dinge vor, die gegen seelische Leiden helfen, etwa viel Draußensein und Sport. Das wird viele Fans von Selbstwert-Coachings und Inneren-Kind-Kursen eher irritieren.

Ja, das frustriert manche Leute. Sie sagen, das ist banal. Aber das sind nun mal die Dinge, die uns helfen, uns ausgeglichen zu fühlen – Sport, ausreichend schlafen, wenig Alkohol, draußen sein und Menschen treffen, die man liebt. Und es ist zum Beispiel wissenschaftlich erwiesen, dass regelmäßiges Ausdauertraining oder Tanzen bei Depressionen sehr gute Effekte haben – für viele Betroffene vielleicht mehr, als das innere Kind zu suchen. Und ja, für manche ist es zunächst eine große Erkenntnis, dass sie auf sich selbst schauen dürfen, dass es erlaubt ist, zu weinen. Wenn das hilft, ist es toll! Aber wenn jemand seit zwei Jahren auf diesem Trip ist, und es geht ihm immer noch nicht besser, ist das einfach zu lange und zu viel.

Ist es nicht auch ein Luxus unserer Zeit, sich den ganzen Tag zu fragen, ob und wie wir glücklich sind?

In gewisser Weise haben wir als Gesellschaft schon eine Saturiertheit erreicht, ja. Uns geht es insgesamt sehr gut. Wenn ich in anderen Ländern bin, denke ich oft, dass wir das gar nicht mehr merken. Etwas mehr Demut und Dankbarkeit täte uns ganz gut. Und wir sollten uns eher die Frage stellen, was will ich aktiv aus meinen vielen Möglichkeiten machen, als mich dauernd damit zu beschäftigen, dass ich mich trotz aller dieser Möglichkeiten nicht immer toll fühle.

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